Die amerikanische Realpolitik im Ukraine-Krieg und die Konsequenzen für Europa.

Die amerikanische Realpolitik im Ukraine-Krieg und die Konsequenzen für Europa.

Vorbemerkung

Die amerikanische Realpolitik basiert ausschließlich auf den nationalen Interessen der nuklearen Großmacht USA. Das ist durchaus legitim, muss aber von eventuellen Verbündeten immer und vor allem auch zeitgerecht zur Kenntnis genommen werden.

Afghanistan ist das jüngste Beispiel dafür, dass die USA ihre Entscheidungen ausschließlich aus der nationalen Sicht Washingtons treffen. Die amerikanische Afghanistan Operation „Enduring Freedom“ zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus begann am 07. Oktober 2001. Die NATO schloss sich diesem Kampf am 20.12.2001 mit der Operation „International Security Assistance Force“ (ISAF) an. Am 28. Dezember 2014 entschieden sich die USA ohne erkennbaren konkreten Grund und vor allem auch ohne Abstimmung mit ihren Verbündeten dazu, den Kampfeinsatz zu beenden. Die NATO schloss sich dieser Entscheidung notgedrungen am 31. Dezember 2014 an und beendete ihre Operation “ISAF”. Am 01. Januar 2015 starteten die USA mit der Operation “Freedom´s Sentinel”, ihrer Unterstützungsoperation in Afghanistan. Die NATO folgte auch diesem, erneut nicht abgestimmten Vorgehen Washingtons mit ihrer Operation „Resolute Support“ . 2021 war die US-Regierung nach nicht zielführenden Gesprächen mit den afghanischen Taliban offensichtlich zu der Erkenntnis gelangt, ihren verlustreichen und letztlich auch erfolglosen Militäreinsatz in Afghanistan zu beenden. Erneut ohne jegliche Rücksprache mit ihren Alliierten beendeten die USA ihre Afghanistan Operation „ Freedom´s Sentinel“ und zogen zum 31. August 2021 die letzten amerikanischen Soldaten aus dem Land am Hindukusch ab. Da ihre Verbündeten ohne die USA nicht in der Lage waren, ihren Einsatz fortzusetzen, beendete die NATO ihre Unterstützungsoperation „Resolute Support“ offiziell am 21. September 2021. Die derzeitige katastrophale Lage in Afghanistan unter einer Regierung der Taliban ist eine Konsequenz der amerikanischen Realpolitik,

Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob im Zusammenhang mit dem westlichen Engagement im Ukraine Krieg ein vergleichbares Vorgehen der US-Regierung – vielleicht mit einem ähnlich desaströsen Ergebnis -ausgeschlossen werden kann.

Die amerikanische Realpolitik im Ukraine-Krieg

Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich das Verhalten und wesentliche grundsätzliche Aussagen des US-Präsidenten und seiner Administration in Erinnerung rufen.

Am 26. März 2022 beendete Präsident Biden in Warschau seine Rede über den von Präsident Putin begonnen Krieg in der Ukraine mit den Worten: “For God’s sake, this man cannot remain in power.” Nachdem dieser Satz auch zu erheblichen Irritationen in seiner eigenen Administration geführt hatte, versicherte der US Präsident 2 Tage später: „I was expressing the moral outrage that I feel, and I make no apologies for it,….“Nobody believes I was talking about taking down Putin. Nobody believes that.”

Am 31. Mai 2022 erklärte der US Präsident, dass er die Ausfuhr des Raketenabwehrsystems „HIMAR“ an die Ukraine genehmigt habe, nachdem die ukrainische Führung zugesichert habe, mit diesen Raketen keine Ziele auf russischem Territorium anzugreifen. Den Export dieses modernen Waffensystems begründete der US Präsident mit den Worten: “The delivery of the advanced weapons will enable Ukraine to fight on the battlefield and be in the strongest possible position at the negotiating table.”  Einen Tag später, am 01. Juni 2022, schrieb Biden in einem “Opinion Essay“ in der New York Times  u.a. : “ I was not encouraging or enabling Ukraine to strike beyond its borders and I don´t want to prolong the war just to inflict pain on Russia.” Und er ergänzte, that he was not seeking Mr. Putin’s ouster.

Eine derartig widersprüchliche Position gegenüber Russland findet sich auch im Verhalten und den Aussagen der militärischen Führung der USA.

Nach einem unangekündigten Besuch in Kiew sagte US Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III. : “We want to see Russia weakened to the degree it cannot do the kind things that it has done in invading Ukraine,” Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass der US-Verteidigungsminister- zum ersten Mal seit dem 18. Februar 2022-  am 13. Mai 2022 seinen russischen Amtskollegen Sergej Schojgu anrief, um diesen- nach amerikanischen Angaben- zu einem sofortigen Waffenstillstand zu drängen. Außerdem habe Austin III. auf die Bedeutung der Aufrechterhaltung der Kommunikationswege hingewiesen. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es seien Fragen der internationalen Sicherheit besprochen worden. Dabei sei es auch um die Lage in der Ukraine gegangen. Weitere Einzelheiten wurden nicht bekannt.

Der russische Machtapparat hatte zuvor beklagt, dass es keine Kontakte zwischen Moskau und Washington mehr gebe.

Knapp 1 Woche später, am 19. Mai 2022, telefonierte der amerikanische Generalstabschef General Mark Milley erstmalig seit Kriegsbeginn mit dem russischen Generalstabschef, General Valery Gerassimow. Auch in diesem Fall ging die Initiative von den USA aus. Ein Sprecher des US-Generalstabs sagte zum Inhalt des Telefonats: Es sei um „wichtige sicherheitsbezogene Themen“ gegangen. Der Sprecher des Pentagon, John Kirby, ergänzte: „Wir glauben, dass es wichtig ist, dass die Kommunikationslinien offen sind.“

Der US Präsident und seine Administration behalten sich aber nicht nur vor, sich hinsichtlich des Engagements im Ukraine Krieg und ihrer Haltung gegenüber Russland an den Realitäten und damit an den nationalen Interessen zu orientieren, sondern passen ihre Politik auf Grund des Ukraine Krieges auch auf internationaler Ebene an. Dazu zwei Beispiele:

Venezuela

Im Jahr 2019 hatten die USA ihre diplomatischen Beziehungen zu Venezuela abgebrochen und ihre westlichen Verbündeten aufgefordert, ihrem Beispiel zu folgen und statt des gewählten Präsidenten Maduro den Oppositionsführer Guaidó als Nachfolger anzuerkennen. U.a. Deutschland folgte dieser Aufforderung. Im Zusammenhang mit den wegen des Angriffskrieges verhängten Sanktionen gegen Moskau stellten die USA ihre Ölimporte aus Russland ein und forderten ihre Verbündeten auf, ihrem Beispiel zu folgen. Da sich auch in den USA die Energiepreise, vor allen Dingen an den Tankstellen, wegen des Ukraine Krieges ständig weiter erhöhten, entschloss sich Washington zu einer Kehrtwende in seiner Venezuela-Politik. Am 6./7. März flog eine US-Delegation nach Venezuela, um mit Präsident Maduro vermutlich auch über die Wiederaufnahme der 2019 gestoppten Öllieferungen in die USA zu verhandeln. Offensichtlich sieht die US-Regierung dies als eine Option, den Verzicht auf russisches Öl auszugleichen. Während der 2-tägigen Gespräche wehten die Fahnen der USA und Venezuelas vor dem Verhandlungsgebäude, und als Zeichen des good will wurden 2 Amerikaner aus dem Gefängnis entlassen. Maduro bezeichnete das Treffen als fruchtbar.

Saudi-Arabien

Die USA waren nach der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Kashoggi am 02. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul auf Distanz zum Königreich am Golf gegangen, vor allem auch deshalb, weil die CIA ermittelt hatte, dass die Ermordung Kashoggis mit Wissen oder möglicherweise sogar auf Anweisung von Kronprinz Mohammed Bin Salman (MBS)  erfolgt war. Der damalige demokratische Präsidentschaftskandidat und heutige US Präsident Joe Biden, hatte seinerzeit  gesagt, he would make the Saudi „ pay the price, and make them in fact the pariah that they are” und er ergänzte, there was „ very little social redeeming value in the present government in Saudi Arabia.”. Auch der saudische Krieg im Jemen, der –trotz eines gerade verlängerten Waffenstillstands- grundsätzlich noch andauert hat, zu einer Distanzierung der US-Regierung zum saudischen Königreich geführt. Obwohl die Verantwortlichen für die Liquidierung Kashoggis noch immer nicht zu Rechenschaft gezogen wurden und- wie gesagt- Saudi-Arabien den Krieg im Jemen trotz der Forderung Washington noch immer nicht beendet hat, plant die US-Regierung für Ende Juni dieses Jahrs eine Reise des US-Präsidenten nach Riad. Dabei spielt es offensichtlich auch keine Rolle, dass 15 von 19 identifizierten Terroristen, die an dem Anschlag vom 11. September 2001 beteiligt waren, aus Saudi-Arabien stammten.

Zur Vorbereitung der Reise des US Präsidenten war in der letzten Mai Woche eine US Delegation unter Führung des Koordinators für den Nahen Osten, Brett McGurk, nach Saudi-Arabien gereist. Die OPEC kündigte annähernd zeitgleich an, ihre Ölfördermenge im Juli und August von aktuell 439.000 Barrel/Tag auf 648.000 Barrel/Tag zu steigern.

US Außenmnister Blinken kommentierte diese politische Kehrtwende Washingtons mit den Worten, human rights are still important, but „ we are addressing the totality of our interests in that relationship”.

Die Konsequenzen für Europa

Im Dezember 2013 hatte der deutsche Politiker Egon Bahr im Gespräch mit Schülern eines Gymnasiums u.a. gesagt: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.

Diese Aussage bewahrheitet sich in der amerikanischen Außenpolitik nachdrücklich, und deswegen müssen Europa und besonders Deutschland aufpassen, dass sie mit ihrem „Pro-Ukraine-Programm nicht plötzlich allein Russland gegenüberstehen. Nach einem Bericht der US-Zeitschrift „The Hill“ *vom 02. Juni 2022 schwindet die Unterstützung der amerikanischen Bevölkerung für die Russlandpolitik der Regierung und auch des US Präsidenten persönlich dramatisch. Wörtlich heißt es im Bericht der Zeitung: “Public support for a major U.S. role in Ukraine polled in the mid-60s in March, but in the latest AP-NORC survey on May 16 this only commands a 45 percent plurality. Similarly, President Biden’s “handling of U.S. relations with Russia” commanded a strong majority in March but is now “underwater,” with 45 percent approving and 51 percent disapproving.

Diese Entwicklung ist für den US Präsidenten besonders kritisch, weil im November 2022 die „Midterm Elections“ anstehen und die Gefahr besteht, dass die regierenden Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus verlieren. Auch die Mehrheit im Senat steht auf der Kippe, weil sie wegen der Patt Situation zwischen Demokraten und Republikanern nur auf der Stimme der Vizepräsidentin Kamala Harris basiert.

Da die Vergangenheit gezeigt hat, dass sich die Stimmung der Bevölkerung vieler westeuropäischer Staaten – wenn auch mit einem gewissen Zeitverzug – an der öffentlichen Meinung der USA orientiert, muss befürchtet werden, dass auch in diesen Staaten die Unterstützung für die Russland- und Ukraine-Politik schwinden wird. Zum Beispiel ist bereits heute festzustellen, dass die Inflationsrate in Deutschland von derzeit knapp 8% und die ständig steigenden Preise, vor allem auch im Energiesektor, zu einer deutlich spürbaren Unruhe und Verunsicherung in der Bevölkerung geführt haben. Zusätzlich entsteht bei einem Teil der finanziell schlechter gestellten Bürger der Eindruck, dass für die ukrainischen Flüchtlinge und auch für die Ukraine selbst unbeschränkt finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, während im eigenen Land immer mehr Menschen wegen der Preisentwicklung kein gesichertes finanzielles Auskommen mehr haben. Auch die Tatsache, dass sich aktuell alle möglichen Organisationen und Initiativen für die Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge engagieren und dabei ebenso vom Schicksal schwer getroffene Asyl suchende Menschen anderer Länder aus dem Auge verloren werden, es mittlerweile sozusagen „Flüchtlinge 1. und 2. Klasse“ gibt, birgt sozialen Zündstoff.

Ob die derzeitige öffentliche und mediale Unterstützung für umfangreiche Waffenlieferungen an die Ukraine, bis hin zu schweren Waffen, Bestand haben wird, muss bezweifelt werden und wird stark davon abhängen, wie sich die USA verhalten.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklung der Stimmungslage in Europa ist, dass die politisch interessierten Bürger zu begreifen beginnen, dass die von den USA forcierte Isolierung Russland und die damit verbundenen Sanktionen lediglich von etwa 65 der 195 Länder dieser Welt unterstützt werden. Vor allem die Länder Afrikas und Lateinamerikas und auch asiatische Staaten wie China, Indien oder auch Indonesien und damit der größte Teil der Weltbevölkerung sind klar auf Distanz gegenüber Washington, nicht zuletzt, weil die ärmeren Länder unter den Folgen des Krieges und der westlichen Sanktionspolitik besonders leiden. Stichwort: Abhängigkeit von russischen und ukrainischen Weizenlieferungen für die hungernde Bevölkerung.

Jetzt werden sogar die ersten Stimmen laut,, wie „The Hill“ schreibt, ..”that it is not Russia that is the world’s most isolated superpower but perhaps the United States itself.”

Man verurteilt zwar weltweit mit Mehrheit den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nach wie vor, hat aber zunehmend Zweifel ob die Politik der USA und ihrer Verbündeten gegenüber Moskau wirklich zielführend ist oder vielleicht den eigenen Ländern mehr schadet als Russland selbst. Es werden klare Friedensinitiativen vermisst und vor allem auch Konzepte für die Zeit danach, weil ja jeder Krieg irgendwann endet und Russland bis zum Ural dann immer noch ein Teil Europas sein wird.

Fazit: Europa muss mit der Diskussion/Spekulation darüber, wer diesen Krieg gewinnen oder verlieren wird, umgehend aufhören und endlich die Initiative ergreifen, diese militärische Auseinandersetzung zu beenden. Dazu ist es vermutlich wichtiger, zunächst bei Präsident Biden auf Augenhöhe vorstellig zu werden, um dann gemeinsam den russischen, aber auch den ukrainischen Präsidenten unmissverständlich aufzufordern, einem sofortigen Waffenstillstand zuzustimmen. Erst danach kann über eine dringend erforderliche neue europäische Friedensordnung verhandelt werden.

Sollte Europa diese Option nicht nutzen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die beiden nuklearen Supermächte USA und Russland, zu irgendeinem Zeitpunkt und ohne Rücksprache mit ihren Verbündeten, auf einer anderen Ebene verständigen und Europa mit dem Problem allein gelassen wird, die Ukraine wiederaufzubauen.

„The Hill“ is an American newspaper and digital media company based in Washington, D.C. that was founded in 1994.[2][4] In 2020, it was the largest independent political news site in the United States.

Focusing on politics, policy, business and international relations, The Hill’s coverage includes the U.S. Congress, the presidency and executive branch, and election campaigns.[5] The Hill describes its output as „nonpartisan reporting on the inner workings of Government and the nexus of politics and business“.[6]

The company’s primary outlet is TheHill.com. The Hill is additionally distributed in print for free around Washington, D.C. and distributed to all congressional offices. It is owned by Nexstar Media Group.

Über Jürgen Hübschen

Jahrgang 1945, Oberst a.D. der Luftwaffe
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