Das Aussetzen der Wehrpflicht- ein politischer Fehler, der durch Geld nicht kompensiert werden kann

Vorbemerkung

Vor dem Hintergrund des Ukraine Krieges entdecken die Politiker über alle Parteigrenzen hinweg ihre Sympathien, um nicht zu sagen, ihre Liebe zur Bundeswehr und die Notwendigkeit einer funktionierenden Landesverteidigung. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema, ob das Aussetzen der Wehrpflicht durch finanzielle Investitionen in die Streitkräfte kompensiert werden kann.

Die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland

Die Basis für die Einführung der Wehrpflicht war/ist der Artikel 12 a des Grundgesetzes. Weil dieser Artikel in den Absätzen 3-6 besondere Regeln für den Verteidigungsfall enthält, ist es wichtig den gesamten Artikel zu kennen, um die Konsequenzen der vor mehr als 11 Jahren erfolgten Aussetzung der Wehrpflicht beurteilen zu können.

Art 12a Grundgesetz

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. …..

Diese beiden Absätze sind sicherlich noch vielen Bürgerinnen und Bürgern geläufig. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sollte sich jeder darüber im Klaren sein, welche gesetzlichen Regeln eigentlich im Spannungs- und Verteidigungsfall zur Anwendung kommen können.

Art 12 a Grundgesetz; Grundlagen für den Spannungs-und Verteidigungsfall

(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.

(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 (Spannungs-und Verteidigungsfall) begründet werden…. (6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

So viel zu den gesetzlichen Grundlagen der Wehrpflicht.

Am 1. April 1957 wurden die ersten Wehrpflichtigen auf der Basis dieses Gesetzes zur Bundewehr eingezogen.

Auf Grund einer Initiative des damaligen Bundesverteidigungsministers unter Bundeskanzlerin Angela Merkel, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, aus dem Jahr 2010 wurde am 24. März 2011, die allgemeine Wehrpflicht auf der Basis des „Wehrrechtsänderungsgesetzes“ zum 1. Juli dieses Jahres ausgesetzt. Mit diesem Gesetz wurde zugleich ein freiwilliger Wehrdienst von sechs bis 23 Monaten geschaffen, der Männer und Frauen gleichermaßen offensteht. Bis zu 15.000 Freiwillige sollen in Zukunft neben den Zeit-und Berufssoldaten in der Bundeswehr dienen.

Die Aussetzung der Wehrpflicht gilt jedoch ausschließlich in Friedenszeiten. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder aktiviert werden. Deshalb bleibt Artikel 12a des Grundgesetzes, nach dem jeder männliche deutsche Staatsbürger „vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz (in der Bundespolizei) oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“ kann, unangetastet.

Konsequenzen aus dem Aussetzen der Wehrpflicht

Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht entfielen auch alle Regeln und Maßnahmen der Wehrüberwachung. Zur Zeit der Wehrpflicht unterlagen alle Wehrdienstleistenden noch für eine bestimmte Anzahl von Jahren der Wehrüberwachung, mussten Wehrübungen leisten, damit sie im Spannungs- oder Verteidigungsfall die aktive Truppe sofort verstärken konnten. Es gibt seit Aussetzung der Wehrpflicht auch keine Wehrerfassung und keine zivile Wehrersatzorganisation mehr. Da niemand mehr gemustert wird, wurden auch die Kreiswehrersatzämter ersatzlos abgeschafft.

Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht endete automatisch auch der ständige Austausch zwischen der Bevölkerung und den Streitkräften. In der Bundeswehr gibt es kaum noch aktuelle Erkenntnisse über soziale Entwicklungen der jungen Leute in unserem Land und auch keine Informationen über Veränderungen in der Ausbildung und Durchführung ziviler Berufe. Transport- und Busunternehmen haben auch deshalb Nachwuchssorgen, weil keine ausscheidenden Wehrpflichtigen mehr zur Verfügung stehen, die während ihrer Bundeswehrzeit Lkw- und/oder Busführerscheine gemacht haben. Das größte Problem aber ist, dass die Streitkräfte den erforderlichen Nachwuchs nicht mehr aus der eigenen Organisation rekrutieren können, sondern auf zivile Bewerber zurückgreifen müssen, die von der Bundeswehr keine Ahnung haben. Deshalb scheiden auch viele Freiwillige nach oder während der Probezeit wieder aus. In der Luftwaffe wurden früher fast 50 % der länger dienenden Zeit- und Berufssoldaten aus dem Bestand der Wehrpflichtigen gewonnen. Diese jungen Männer hatten das „Soldat-Sein“ erfahren, sich bewusst für diesen Beruf entschieden und ihre Vorgesetzten konnten beurteilen, wen man als Freiwilligen oder sogar späteren Berufssoldaten gebrauchen konnte.

Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht entfiel auch der zivile Ersatzdienst, der von vielen jungen Männern z. B. auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, in Alten-und Pflegeheimen, beim Technischen Hilfswerk, dem Deutschen Roten Kreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Katastrophenschutz und vielen gemeinnützigen Organisationen geleistet wurde. Dieses Defizit konnte bis heute nicht vollständig kompensiert werden.

Investitionen in die Streitkräfte

Wie bereits gesagt, ist der Krieg in der Ukraine offensichtlich für viele Politiker, angefangen beim Bundeskanzler, ein Eye-Opener. Man scheint verstanden zu haben, was Willy Brand einmal gesagt hat: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Auf Initiative des Bundeskanzlers verabschiedete der Bundestages das s.g. „Sondervermögen“ für die Bundewehr in Höhe von 100 Milliarden€, und der Kanzler versicherte, dass für die Verteidigung in Zukunft 2% des BIP in jeden Haushalt eingestellt würden. Wörtlich sagte Bundeskanzler Scholz am 16. September 2022 auf einer Bundeswehrtagung: „Das Sondervermögen ist Realität. Auch meine Aussage, dass wir den Verteidigungshaushalt

kontinuierlich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts heben, gilt! Damit können

Sie planen.“

Bei den 2 % handelt sich um ein Ziel, das sich die NATO-Staaten gemeinsam bereits auf dem NATO-Gipfel 2002, also vor 20 Jahren, in Prag gesetzt hatten. Damals wurden die baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien und die Slowakei eingeladen, Mitglieder der Allianz zu werden. Eine Bedingung war, „genügend Ressourcen“ in die Verteidigung zu investieren. Der Richtwert für jeden Aspiranten lautete zwei Prozent seines BIP. Der Gerechtigkeit halber sollten aber auch jene Staaten, die der NATO bereits angehörten, dieses Ziel anstreben.

Festgeschrieben wurde das Zwei-Prozent-Ziel noch einmal 2014 beim NATO-Gipfel in Wales. Das war nach der Annexion der Krim.

Im Jahr 2021 betrug der Anteil der Militärausgaben am BIP in Deutschland rund 1,34 Prozent. Die Militärausgaben der Bundesrepublik beliefen sich auf ca. 56 Milliarden US-Dollar.

Der Kanzler formulierte auf der Tagung abschließend sein Ziel mit den Worten: „Als bevölkerungsreichste Nation mit der größten Wirtschaftskraft und Land in der Mitte des Kontinents muss unsere Armee zum Grundpfeiler konventioneller Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa!“

Zusammenfassende Bewertung

Am 24. März 2011wurde die Wehrpflicht formaljuristisch zwar nur ausgesetzt, aber de facto abgeschafft; denn ohne eine ständige Wehrfassung und eine bestehende zivile Wehrersatzorganisation kann das Aussetzen der Wehrpflicht nicht rückgängig gemacht werden. Die jungen Menschen, in der heutigen Zeit wohl nicht nur Männer, sondern auch Frauen, müssen registriert und gemustert werden, was auch eine medizinische Untersuchung beinhaltet und einen Tauglichkeitsgrad für bestimmte Aufgaben und Waffengattungen erhalten. Das funktioniert nur mit Behörden, die mit den früheren Kreiswehrersatzämtern vergleichbar sind. Die gibt es aber nicht mehr und zwar weder strukturell noch materiell oder personell. Ein Neuaufbau würde Jahre dauern.

Das Argument, dass wehrpflichtige Soldaten heute viele Aufgaben in den Streitkräften gar nicht mehr wahrnehmen könnten, weil immer mehr technische Kenntnisse dafür erforderlich sind, sticht aus meiner Sicht nicht. Ich bin während meiner Militärzeit mehrmals mit einer Crew zum Jahresschießen nach Kreta geflogen, die zu 50 % aus wehrpflichtigen Soldaten bestand. Diese technisch interessierten jungen Männer wurden dabei u.a. als Bediener von Radargeräten und Computern eingesetzt. Das dürfte für die heutige Jugend sicherlich noch viel selbstverständlicher möglich sein.

Mit der de facto Abschaffung der Wehrpflicht endete auch die Einbindung der Streitkräfte in die Gesellschaft. Diese steht der Bundeswehr heute bestenfalls mit einem wohlwollenden Desinteresse gegenüber. Kaum ein Politiker ist von Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr persönlich betroffen und muss sich deshalb auch keine Sorgen machen über Leben und Gesundheit eines Angehörigen in Einsätzen wie Afghanistan oder aktuell in Mali oder vielleicht sogar in einem Krieg in Europa. Ohne eine Wehrpflicht werden Soldaten nicht anders betrachtet als andere, durchaus ehrenwerte Handwerker. Wenn die Heizung defekt ist, ruft man den Installateur, wenn das Auto streikt, bringt man es in die Werkstatt, und wenn das Land verteidigt werden muss zu Hause oder im Rahmen eines Bündnisses, dann ruft man eben die Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr. Bei Naturkatastrophen oder auch im Zusammenhang mit der Unterstützung bei den Corona-Maßnahmen wurde in der Vergangenheit bereits klar, wie sehr die Wehrpflichtigen fehlen. Man hat mittlerweile in den Streitkräften „immer mehr Häuptlinge, aber keine Indianer mehr“. Das nächste Problem sind die fehlenden Reservisten. In Zeiten der Wehrpflicht verfügte Deutschland über Millionen von Reservisten, weil ja jeder Wehrpflichtige nach seinem Ausscheiden aus der Armee für einige Jahre Angehöriger der Reserve war. Firmen, Behörden und Organisationen mussten einen solchen Reservisten freistellen, wenn er zu einer Wehrübung einberufen wurde. Es gibt zwar auch heute noch Reservisten, aber in einer vergleichbar deutlich geringeren Anzahl, weil es sich dabei nur um ausscheidende Zeit-und Berufssoldaten handelt.

All die aufgezeigten durch die Abschaffung der Wehrpflicht entstandenen Probleme können durch finanzielle Maßnahmen nicht kompensiert werden. Zunächst braucht man junge Menschen, die aus Überzeugung Soldat werden und bereit sind, sich für einige Jahre zu verpflichten und vielleicht sogar in einem Krieg ihr Leben einzusetzen. Eine Armee ist nicht wie ein Wasserhahn, aus dem – je nach Bedarf-  mal mehr oder weniger Wasser fließt. Um einen einsatzbereiten Kompaniechef zu bekommen, dauert es 8-10 Jahre, und Bataillonskommandeur wird ein Offizier erst nach etwa 15 Jahren.

Im Rahmen der Wehrpflicht war es möglich, die Bundeswehr durch die Einberufung von Reservisten auch kurzfristig zahlenmäßig mit ausgebildeten Soldaten zu verstärken. Das wäre heute nur noch nach Feststellung des Spannungs-oder Verteidigungsfalles mit qualifizierter Mehrheit durch den Deutschen Bundestag möglich. Selbst wenn das geschähe, hätte man ja nur wenig ausgebildete Soldaten zusätzlich zur Verfügung. Das Ziel des Bundeskanzlers, die Bundeswehr zur am besten ausgestatteten Streitkraft Europas zu machen, verlangt nicht nur eine gute Organisation und eine erstklassige, voll funktionsfähige materielle Ausstattung, sondern vor allem auch eine hohe personelle Durchhaltefähigkeit mit motivierten und top-ausgebildeten Soldaten, Das ist mit Geld allein nicht zu erreichen, sondern nur mit einer ausreichenden und vor allem auch  aufwuchs fähigen Personaldecke, die ohne Wehrpflicht nicht zu erreichen sein wird.

 Greven, 28. September 2022

Gez.

Jürgen Hübschen

Über Jürgen Hübschen

Jahrgang 1945, Oberst a.D. der Luftwaffe
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