Unmittelbar vor der
„Friedenskonferenz“ in der Schweiz hatte Präsident Putin in einer Grundsatzrede
seine Bedingungen für einen Waffenstillstand im Ukrainekrieg und den Beginn von
Verhandlungen präsentiert.In dem nachfolgenden
Beitrag wird die Frage erörtert, ob es sinnvoll war, den Vorschlag des
russischen Präsidenten pauschal abzulehnen oder ob man ihn nicht besser -und
zwar nach Kenntnis der gesamten Rede- einer genaueren Prüfung hätte unterziehen
sollen. Das Angebot des
russischen Präsidenten für einen Waffenstillstand und mögliche Verhandlungen Am 14. Juni 2024 hat Präsident Putin vor führenden
Mitarbeitern des russischen Außenministeriums eine Grundsatzrede zur Ukraine gehalten.
Darin ging es um die aktuelle Lage und die Entwicklungen, die aus russischer
Sicht zu der heutigen Situation geführt haben. Im Rahmen dieser Rede, führte der russische Präsident auch
aus, unter welchen Bedingungen im Ukrainekrieg ein Waffenstillstand erreicht
werden könne, der dann zu substanziellen Verhandlungen führen könne. In der
deutschen Übersetzung der vom russischen Außenministerium veröffentlichen Rede
von Präsident Putin heißt es dazu wörtlich:„Unsere Bedingungen
sind klipp und klar: Die ukrainischen Truppen sollten vom Territorium der
Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der Gebiete Cherson und Saporoschje
vollständig abgezogen werden. Ich betone dabei: vom ganzen Territorium dieser
Region in ihren administrativen Grenzen, wie sie während ihrer Mitgliedschaft
in der Ukraine waren.Sobald man in Kiew die
Bereitschaft zu solchem Beschluss signalisiert und den realen Abzug der Truppen
aus diesen Regionen beginnt, und zudem den Verzicht auf den Nato-Beitritt
offiziell verkündet, werden wir sofort den Befehl zur Feuereinstellung und zum
Beginn der Verhandlungen abgeben. Natürlich garantieren wir dabei den
störungsfreien und sicheren Abzug der ukrainischen Kräfte.Wir würden natürlich
gerne damit rechnen, dass man diesen Beschluss über den Truppenabzug, den
blockfreien Status und den Dialog mit Russland, von dem die künftige Existenz
der Ukraine abhängt, selbstständig, von der realen Situation ausgehend und
unter Berücksichtigung der wahren nationalen Interessen des ukrainischen Volkes
trifft – und nicht auf Verfügung des Westens, obwohl diesbezüglich auch große
Zweifel bestehen.“ Weiter sagte der Präsident: „Heute machen wir ein weiteres konkretes Friedensangebot. Falls Kiew
und die westlichen Hauptstädte wieder „nein“ sagen, wird das ihre Sache – und
ihre politische und moralische Verantwortung für das weitere Blutvergießen –
sein. Es ist offensichtlich, dass sich die Situation auf dem Boden auch weiter
nicht zugunsten des Kiewer Regimes verändern wird. Und die
Verhandlungsbedingungen werden dann wieder anders sein.Ich muss das
wichtigste unterstreichen: Bei unserem Angebot geht es nicht um eine
provisorische Waffenruhe, was der Westen will, um sich von seinen Verlusten zu
erholen und das Kiewer Regime für eine neue Offensive aufzurüsten. Es geht, wie
gesagt, nicht darum, den Konflikt auf Eis zu legen, sondern darum, ihm ein Ende
zu setzen.Und ich sage wieder:
Sobald man in Kiew unser Angebot akzeptiert und dem vollständigen Abzug seiner
Truppen aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk und den Gebieten Saporoschje
und Cherson zustimmt, sind wir bereit, sofort die Verhandlungen zu beginnen.Ich wiederhole: unsere
prinzipielle Position besteht darin, dass die Ukraine einen neutralen,
blockfreien nuklearfreien Status hat und entmilitarisiert bzw. entnazifiziert
wird, zumal diesen Momenten alle noch 2022 bei den Verhandlungen in Istanbul
zugestimmt haben. Hinsichtlich der Entmilitarisierung wurde damals alles
vereinbart: die Zahl der Panzer, anderer Waffen usw. Das wurde schon
abgesprochen.Natürlich sollen die
Rechte, Freiheiten und Interessen der russischsprachigen Einwohner der Ukraine
eingehalten werden; die neue territoriale Realität, der Status der Krim,
Sewastopols, der Volksrepubliken Donezk und Lugansk und der Gebiete Cherson und
Saporoschje sollten anerkannt werden. Künftig sollen alle diese prinzipiellen
Bestimmungen als fundamentale internationale Vereinbarungen verankert werden.
Natürlich sieht das auch die Abschaffung aller westlichen Sanktionen gegen
Russland vor.“ Die Reaktionen „des
Westens“ auf die Vorschläge des russischen Präsidenten Wie zu erwarten- man
könnte auch sagen, zu befürchten- waren die Reaktionen der Ukraine und ihrer
„westlichen“ Verbündeten negativ. Alle von Präsident Putin genannten
Bedingungen wurden unisono und voll umfänglich abgelehnt. Die Ukraine macht den vollständigen Abzug der russischen
Truppen von ihrem international anerkannten Staatsgebiet, einschließlich der
2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim zur Bedingung für mögliche
Friedensverhandlungen, so wie es Präsident Selensky bereits im Oktober 2022
angeordnet hatte.Der ukrainische Präsident wies den aktuellen russischen
Vorschlag als nicht vertrauenswürdig zurück. Bei den Bedingungen handele es
sich um ein Ultimatum, sagte er dem italienischen Nachrichtensender SkyTG24.
Putin würde seine Militäroffensive selbst dann nicht stoppen, wenn seine
Forderungen erfüllt würden. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte die
Äußerungen „absurd“. Ziel Putins sei es, die internationale Gemeinschaft
in die Irre zu führen.Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak
erklärte auf der Plattform X, Putin habe „keine
wirklichen Friedensvorschläge und keinen Wunsch, die Kämpfe zu beenden“. Der
Vorschlag sei „eine komplette Täuschung“. Es gebe keine Möglichkeit,
einen Kompromiss zwischen Putins Erklärung und der Position der Ukraine zu
finden, sagte Podoljak außerdem der Nachrichtenagentur Reuters. Putins
Vorschlag laufe darauf hinaus, dass die Ukraine ihre Niederlage anerkenne und
ihre Souveränität aufgebe. Der Leiter des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrey
Yermak ergänzte vor Journalisten: “There will be no compromise on independence
or territorial integrity. Ultimatums don’t work with Ukraine, and our people
proved that on the battlefield in the past two years.”(“Es wird hinsichtlich
der Unabhängigkeit und territorialen Integrität keine Kompromisse geben.
Ultimaten gegenüber der Ukraine funktionieren nicht und unsere Bevölkerung hat
das in den vergangenen zwei Jahren auf dem Gefechtsfeld bewiesen.“)NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellte fest: „Dies ist kein Friedensvorschlag. Dies
ist ein Vorschlag für mehr Aggression, mehr Besatzung.“ US-Vizepräsidentin
Harris wertete die Bedingungen des russischen Präsidenten als „Aufruf zur Kapitulation“ der
Ukraine.US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte ergänzend,
Putin sei „in keinerlei Position, in
der er der Ukraine diktieren könnte, was sie für Frieden tun müsse“.
Russland habe völkerrechtswidrig ukrainisches Territorium besetzt. „Wir wollen nicht, dass der Anführer
eines Landes eines Tages aufwacht und beschließt, die Grenzen seines Nachbarn
auszulöschen und dessen Gebiet zu annektieren. Das ist nicht die Welt, in der
wir alle leben wollen.“ Auch EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte
sich zum Vorschlag von Präsident Putin und sagte: „Freezing the conflict today with foreign troops occupying
Ukrainian land is not an answer. In fact, it is a recipe for future
wars of aggression.“ („Den Konflikt heute einzufrieren, während
fremde Truppen ukrainisches Territorium besetzen, ist keine Antwort. Es ist
vielmehr ein Rezept für zukünftige Aggressionskriege.“) Die italienische Ministerpräsidentin Meloni bezeichnete den
russischen Vorschlag als „Propaganda“ und ergänzte mit einer gewissen Ironie: „It
doesn’t seem particularly effective to me as a negotiation proposal to tell
Ukraine that it must withdraw from Ukraine.“(“ Aus meiner Sicht erscheint ein
Verhandlungsvorschlag nicht besonders
effektiv zu sein, der Ukraine zu sagen, sie muss sich aus der Ukraine
zurückziehen.“)Der britische Premierminister Rishi Sunak warf dem russischen Präsidenten
vor „spinning a phoney narrative
about his willingness to negotiate“. (“ eine unechte Geschichte über
seinen Verhandlungswillen zu erfinden.”) und ergänzte, dass Länder, die Russland mit Waffen unterstützen, auf der
falschen Seite der Geschichte stehen würden. („are on the wrong side of history“)Bundeskanzler Scholz
ist zwar der Meinung, dass Russland grundsätzlich in Friedensverhandlungen
einbezogen werden muss, lehnte aber den Vorschlag des russischen Präsiden als
„Diktatfrieden“ ab und fügte hinzu: „Russland
könnte diesen Krieg heute oder zu jedem beliebigen Zeitpunkt beenden, wenn es
seine Angriffe einstellt und seine Truppen aus der Ukraine abzieht.“ Russland
habe sich bis heute geweigert, dem Aufruf zu Frieden auf der Grundlage des
Völkerrechts und der UN-Charta Folge zu leisten.Alternativvorschläge zu den russischen Vorstellungen wurden
vom „Westen“ nicht gemacht, der offensichtlich an seiner Position festhält,
nämlich „der Ukraine bis zum Sieg beizustehen,“ wie es die parlamentarische
Versammlung der NATO auf ihrem Treffen im Mai 2024 in Sofia erklärt hatte.
Unklar ist, ob diejenigen Politiker, die den russischen Vorschlag umgehend
abgelehnt haben, die vollständige Rede von Präsident Putin überhaupt kennen.
Dann wäre ihnen nämlich u.a. klar, welche Bedingungen der russische Präsident
ausdrücklich nicht gestellt hat, was ja ein Hinweis auf mögliche Kompromisse
seinerseits sein könnte. Er hatte z.B. nichts zum Schwarzen Meer, zu einem
Beitritt der Ukraine zur EU oder auch zur Zukunft Odessas gesagt. Zusammenfassende
Bewertung Mit den von Präsident Putin formulierten Bedingungen für
einen Waffenstillstand und darauf basierende Verhandlungen einerseits und der
Forderung der Ukraine, dass zunächst alle russischen Truppen von ukrainischem
Territorium, also einschließlich der Krim, abgezogen werden müssen,
andererseits, befindet man sich in einer Sackgasse, um den Ukrainekrieg zu
beenden. Die formulierten Bedingungen der beiden Kriegsparteien schließen eine
Lösung aus. Trotzdem ist es grundsätzlich von Vorteil, die unvereinbaren Positionen
Moskaus und „des Westens“ zu kennen, auch wenn das für manche Beobachter nicht
nachvollziehbar erscheinen mag. Kennen darf nicht verwechselt werden mit
anerkennen. Präsident Putin hat ja in seiner Grundsatzrede nicht nur seine
Bedingungen für einen Waffenstillstand formuliert, sondern die russische Gesamtsicht
des Ukrainekrieges und dessen Vorgeschichte dargestellt. Damit ist einmal mehr klargeworden,
wie der Präsident die Gesamtlage beurteilt, und natürlich kann und muss man
seine Position nicht teilen. Aber für mögliche Verhandlungen ist es
unabdingbar, diese zu kennen. Was ist zu tun? Es ist sicherlich keine Lösung,
dass der Krieg in der Ukraine einfach so weitergeht oder, was überhaupt nicht
auszuschließen ist- weiter eskaliert. Hinzu kommt die Gefahr, dass sich in
Moskau die Hardliner durchsetzen, denen die bisherige Strategie des Präsidenten
nicht offensiv genug ist und die auf eine militärische Entscheidung drängen.
Auf der anderen Seite könnte die amerikanische Präsidentenwahl eine 180 ° Wende
der USA im Ukrainekrieg und der Sanktionspolitik gegenüber Moskau mit sich
bringen. Da weder die russische noch die „westliche“ Position zielführend sind,
müssen die Kriegsparteien ihre völlig unrealistischen maximal-Positionen
aufgeben. Das wird aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vor dem Beginn von
Verhandlungen geschehen, sondern erst, wenn man gemeinsam am Tisch sitzt. Um
das überhaupt zu erreichen, muss ein für beide Kriegsparteien akzeptabler
Mediator gefunden werden. Das müsste vorzugsweise der UN Generalsekretär sein, aber
alternativ käme auch der brasilianische Staatspräsident Lula da Silva in Frage,
der ja schon vor geraumer Zeit einen eigenen Friedensvorschlag gemacht hat. Eine
andere Möglichkeit wäre der türkische Staatspräsident Erdogan, in dessen Land
ja bereits im Frühjahr 2022 Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine
stattgefunden haben und der beim Getreideabkommen zwischen Russland und der
Ukraine eine entscheidende Rolle gespielt hat. Auch der chinesische Staatspräsident wäre eine Option, weil
dieser einen erheblichen Einfluss auf Moskau hat, aber es ist zweifelhaft, ob
„der Westen“ ihn akzeptieren würde.Die Initiative, einen Mediator zu suchen und zu finden,
sollte die EU ergreifen, weil der Krieg in Europa stattfindet und weder
Washington noch Moskau dafür in Frage kommen. Greven, den 22. Juni 2024 Jürgen Hübschen
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